Eingeführt wurde das A.D. an den deutschsprachigen Schauspielschulen 2008 im Zuge des sogenannten Bologna-Reformprozesses mit dem Ziel, zu einer qualitativen Vergleichbarkeit unter den Hochschulen zu kommen. Die Ausbildungszeit von acht Semestern wurde jetzt in Fächermodule gegliedert, in denen die Studierenden Leistungsnachweise erbringen. Leistungen werden nicht allein in Form von Noten bewertet, sondern zudem durch die Vergabe sogenannter Credit Points. In der Regelstudienzeit von acht Semestern müssen insgesamt 300 ETCS erarbeitet werden. Ursprünglich bestand der Studiengang Schauspiel an der Folkwang Universität der Künste (UdK) aus zwei getrennten Zügen an den Campus in Essen und Bochum. Am 30. Januar 2013 trat hier die neue Prüfungsordnung für das Artist Diploma in Kraft. In Artikel 2 werden die Anforderungen an die Studierenden definiert:
„Die Artist Diploma Prüfung bildet einen berufsqualifizierenden Abschluss. Mit dem wird nachgewiesen, dass die Absolventinnen und Absolventen unter Berücksichtigung der Veränderungen und Anforderungen der Berufswelt fachliche Kenntnisse, Fähigkeiten und Methoden erworben haben, die zur selbständigen künstlerischen Arbeit und zu verantwortlichem Handeln befähigen.“
(Prüfungsordnung für den Studiengang Schauspiel (Artist Diploma) der Folkwang Universität der Künste, PR.156, 30.1.2013)
Während früher das Abschlussexamen der Schauspielschüler*innen mit dem Bestehen der jeweiligen praktischen und schriftlichen Teilprüfungen sowie dem anschließenden Intendant*innen-Vorsprechen erfüllt war, führte die Neuregelung nun die praktische Eigenarbeit als zusätzliches Examens-Element ein.
„Im letzten Studienjahr ihrer Ausbildung entwickeln die SchauspielschülerInnen eine praktische Eigenarbeit, bei der sie die in den ersten drei Jahren erworbenen Fähigkeiten anhand eines Projektes unter Beweis stellen, das sie von der ersten Idee bis zur endgültigen Präsentation völlig eigenständig entwickeln. Das kann ein Theaterstück sein oder ein Film, eine Performance oder eine musikalisch-theatralische Darbietung. Entscheidend ist nur, dass sie am Ende sowohl inhaltlich, als auch handwerklich und ästhetisch zu überzeugen weiß.“ (ebenda, 2013)
Die Bandbreite der Möglichkeiten verweist auf die grundlegenden Veränderungen in der Ästhetik der darstellenden Künste.
Die große Herausforderung, vor der die staatliche Schauspielausbildung
im deutschsprachigen Theater heute steht, liegt also darin, die hohen Qualitätsstandards der bisherigen Ausbildung weiterhin zu gewährleisten und sie zugleich im Sinne der neuen ästhetischen Verfahren weiterzuentwickeln. Schließlich sind Schauspielakademien nicht nur der Lehre, sondern auch der Forschung verpflichtet. Sie haben aber auch die veränderten ökonomischen Bedingungen der subventionierten wie auch der freien Kulturszene zu berücksichtigen und sich die Frage zu stellen: „Für welche Produzent*innen bilden wir unsere Studierenden eigentlich aus?“
An der Folkwang UdK hat die künstlerisch-handwerkliche Ausbildung im vierjährigen Intensiv-Studium nach wie vor hohe Priorität. Bei Sprechen, Bewegung, Singen und Tanzen, Rollenstudium und Szenischem Unterricht geht es schließlich um die unverzichtbare handwerkliche Basis des Berufes. Und doch hat sich hier in den letzten Jahren etwas entscheidend verändert: Die Studierenden werden mehr denn je als eigenständige künstlerische Persönlichkeiten betrachtet, denen das Studium helfen soll, ihre Talente zu entdecken und unter der Anleitung der Fachlehrer*innen weiterzuentwickeln. Zugleich ist der*die Schauspielschüler*in aber bereits vom ersten Studientag an aufgerufen, die volle Verantwortung für seine*ihre künstlerische Arbeit zu übernehmen. Im Unterricht wird zunehmend darauf geachtet, die Eigeninitiative der Studierenden zu wecken und selbst bei obligatorischen Übungen nach Möglichkeiten zu suchen, sie kreativ an den Themenfindungen und künstlerischen Lösungen zu beteiligen. Warum sollten im Sprechunterricht nicht auch selbstverfasste Texte gelesen werden? Und ist die Identifikation mit einem Liederprogramm nicht ungleich größer, wenn Songs ausgesucht werden, zu denen die Studierenden einen ganz persönlichen Bezug haben?
Schon seit Langem praktiziert die Folkwang UdK eine Philosophie der Kooperation unter den Studiengängen gemäß den Vorstellungen ihres Gründers Osthaus. Im Studiengang Regie spielen Schauspielstudierende in den Inszenierungen der angehenden Regisseur*innen mit und lernen dabei, eine Theaterproduktion auch mit den Augen derjenigen zu sehen, die für das Ganze die künstlerische Verantwortung tragen. Studierende und Dozent*innen aus den Nachbarstudiengängen „Musical“, „Tanz“ und „Musik“ nehmen immer wieder an gemeinsamen Produktionen teil. Dadurch ist mit der Zeit ein Klima künstlerischer und menschlicher Zusammengehörigkeit entstanden, das die Studierenden als Selbstverständlichkeit erfahren und das sie am Ende ihrer Ausbildung für ihre Eigenarbeiten produktiv nutzen.
Eine jahrzehntelange Zusammenarbeit mit dem Schauspielhaus Bochum gibt dem jeweils dritten Jahrgang die Gelegenheit, in einer Stadttheater-Produktion unter professionellen Bedingungen zu spielen. Aber auch andere renommierte Theater der Region freuen sich über die Mitwirkung der Essener/Bochumer Schauspielschüler*innen. Erste Erfahrungen vor oder hinter der Kamera und am Schneidetisch sammeln die Studierenden in Filmprojekten an der Dortmunder TH im „Fachbereich für Bewegtbildstudien“. Seit Jahren erarbeiten Live Arts Künstler*innen und Performer*innen als Lehrbeauftragte mit den Studierenden regelmäßig eigene Projekte und machen sie mit den ihnen eigenen Erzählweisen und ästhetischen Kategorien vertraut. All diese nunmehr seit Jahren praktizierten Bereicherungen der ‚klassischen‘ Schauspielausbildung zeugen von der Bemühung, mit der Einführung des A.D.-Abschlusses die Inhalte und Ausbildungsziele des Studiengangs Schauspiel noch einmal kritisch zu hinterfragen und den Versuch zu wagen, das Studium unter Beibehaltung seiner hohen Qualitätsstandards für die neuen ästhetischen Impulse zu öffnen, um die Studierenden auf die veränderten strukturellen Bedingungen in der deutschsprachigen Theater- und Kulturlandschaft wirksam vorzubereiten.
Bereits nach der Hälfte des dritten Studienjahrs stellen die Schauspielschüler*innen in den sogenannten „Exposees“ ihre Projektideen im Rahmen einer kurzen Performance schulintern vor. Dem anschließenden Feedback entnehmen sie wertvolle Impulse, um ihre Ideen weiterzuentwickeln. In dieser Phase wird der konzeptionelle und organisatorische Rahmen der Eigenarbeit abgesteckt:
„Was ist das Thema und welches Format eignet sich hierfür am besten? Werde ich einen Film drehen, ein Tanzstück entwickeln, ein Improvisationstheaterstück erarbeiten oder eine Literaturadaption erstellen? Welche künstlerischen Partner möchte ich in meine Arbeit miteinbeziehen? Was fehlt mir selbst an Knowhow, um meine Idee zu realisieren? Finde ich die für meine Arbeit notwendige Expertise unter den Dozent*innen und Techniker*innen der Folkwang UdK oder muss ich mich außerhalb um Hilfe bemühen?“
Manche Studierende absolvieren eine intensive Recherche, bevor sie mit der künstlerischen Umsetzung ihres Themas beginnen. Und nicht selten scheitern große Pläne an finanziellen, organisatorischen oder technischen Möglichkeiten. Jetzt wird es noch ein gutes Jahr dauern, bis diese ersten Ideen als elaborierte Produktionen zur Uraufführung gebracht werden. Diesen langen und bisweilen auch steinigen Weg legt jede*r Studierende selbstverantwortlich zurück, was nicht heißt, dass sie*ihn die Schule dabei allein lässt. Zwei ständige Mentoren aus dem Kollegium, die Professoren Noam Meiri und Gerold Theobalt, besuchen regelmäßig die Proben und stehen jederzeit mit Rat und Hilfe zur Verfügung.
Darüber hinaus greifen die Studierenden immer wieder auf die Expertise ihrer Fachdozent*innen zurück, wenn es um die künstlerische Umsetzung von Ideen geht, die zum Beispiel bestimmte handwerkliche Fähigkeiten oder ästhetische Kompetenzen verlangen, bei denen die Studierenden noch unsicher sind. Vor allem aber wird das Feedback von Lehrer*innen geschätzt, zu denen im Laufe des Studiums ein besonderes Vertrauensverhältnis gewachsen ist. Und natürlich werden immer wieder Kommiliton*innen zurate gezogen, die bei diesem Austausch wertvolle Erfahrungen für ihre eigenen Projekte sammeln. In diesem Sinne ist der gesamte Studiengang an der Entwicklung der Eigenarbeiten mitbeteiligt.
Ist dann zum Ende des Studiums das fertige Stück erfolgreich über die Bühne gegangen, haben die Studierenden in der Regel noch zwei Monate Zeit, um ihre Inszenierungserfahrungen in einem theoretischen Essay zu reflektieren. Im Theorieunterricht, der vor allem in den ersten beiden Studienjahren stattfindet, wurden sie bereits darauf vorbereitet. Hier wurden die Grundbegriffe wissenschaftlicher Arbeit vermittelt, Recherche eingeübt und neben theaterhistorischen und ästhetischen Zusammenhängen auch Methoden der Textanalyse vermittelt.
Die A.D.-Eigenarbeit dynamisiert den gesamten Studiengang und bereichert die Studierenden durch eine Fülle wertvoller Erfahrungen. Sie bringt Lehrende und Studierende einander über die Arbeit näher und intensiviert die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Studiengängen der Folkwang UdK. Am Ende ihres vielfältigen Studiums verlassen Folkwang-Schauspielschüler*innen ihre Schule jetzt nicht nur als exzellent ausgebildete Darsteller*innen. Fähig zur kritischen Reflexion ihrer Arbeit sind sie inzwischen auch in der Lage, selbstständig eigene Projekte zu entwickeln und sich auch außerhalb der subventionierten Theaterbetriebe als freischaffende Darstellungsexpert*innen erfolgreich zu behaupten.
Prof. Noam Meiri,
Prof. Gerold Theobalt
Kooperationspartner: